Es folgt ein kleiner theologischer Exkurs in die Welt der Hinduismus. Es sind ein paar Informationen, um die es mir geht:

Gott-Prinzip

Mit dem Hinduismus verbindet man für gewöhnlich ein riesiges Pantheon an Göttern und mythischen Gestalten. Man darf nichtsdestotrotz den Hinduismus nicht als einfachen Polytheismus verstehen, auch wenn verschiedenste Götter angebetet und verehrt werden. Die hinduistische Theologie macht folgendes klar: es gibt nur einen Gott. Mit Gott ist hiermit eine Art Weltseele, eine besondere göttliche Energie, das Brahma gemeint. Dieses Göttliche ist überall, in und um jedes Lebewesen.

Neben der Natur, dem Universum nimmt dieses Göttliche aber auch verschiedene konkrete Formen an. Das Göttliche tritt in den Gottfiguren auf. Alle Götter sind im Grunde ein und dasselbe, spiegeln aber nur verschiedene Aspekte, Eigenschaften des Ganzen wider. Es gilt hier das Prinzip „Unity in Diversity“.

Als die drei wichtigsten Gottgestalten gelten Brahman, Vishnu und Siva. Brahman (mit 4 Köpfen dargestellt) gilt als der Schöpfer des Universums. Vishnu ist der Bewahrer des Universums, weshalb er in der Weltgeschichte mehrmals in Avataren, Inkarnationen auf die Erde kommt um gegen Dämonen zu kämpfen. Die zehn Avatare Vishnus sind der Fisch, die Schildkröte, der Rieseneber, der Menschlöwe, der Zwerg, Parashurama, Rama, Krishna, Buddha (ja, der Buddha) und Kalki (noch ausstehend). Siva hingegen ist das Gegenteil Vishnus. Er ist der Zerstörer und Erneuerer des Universums. Er genießt vor allem in Tamil Nadu große Anhänger (Shivaismus). Diese drei Götter bilden die sog. Trimurti. Weitere bekannte Götter sind Devi, Ganesha, Murugan, Hanuman, Krischna, Rama oder Lakshmi. Jeder Gott hat hierbei seinen eigenen Charakter, eigene Aufgaben und Eigenschaften. Es herrscht eine Vielzahl an Verhehrungsformen. Die Götter werden teilweise auch nur regional verehrt (z.B. Meenakshi in Madurai oder Chamundi in Mysuru). Alte Königsgeschlechter hatten manchmal auch eigene Götterkulte.

Die Götter bilden verschiedene Eigenschaften, Formen des Gottwesens ab. Sie bilden die Wege zu Gott (vergleichbar mit den Heiligen). Man kann es sich so vorstellen: Gott ist wie Strom. Die Elektrizität bringt eine Glühbirne zum Leuchten, kühlt einen Raum, betreibt Motoren, heizt Öfen und vieles mehr. So funktioniert der eine Geist durch viele Namen, Formen und bringt dem Verehrenden viele Vorteile/Nutzen: als Lakshmi bringt er Reichtum, als Saraswati Weisheit, als Devi Mut und Tapferkeit usw. So verteilt „Gott“ materiellen Reichtum oder spirituelle Weisheit auf verschiedene Wege.

Karma und Wiedergeburt

Für dem Hinduismus ist der Mensch Meister seines eigenen Lebens und der Erfüller seiner Bestimmung. Er formt sein Leben durch seine Bemühungen. Seine Taten (= karmas), seine Begierden und seine Vergangenheit formen sein zukünftiges Leben. Alle Taten, Gedanken, Erlebnisse formen den menschlichen Geist (unterbewusst) und die Art wie er wiederum denkt oder handelt. Das Gesetz von Karma ist die Relation der menschlichen Vergangenheit mit der Zukunft.

Das Gute, das wir für andere leisten, resultiert in unserem eigenen Guten. Das Böse, das wir gegenüber anderen tun, resultiert in Schlechtem für uns. Manche Reaktionen kommen früher, manche später. In den hinduistischen Mythen und Epen ist das Karma-Prinzip durch Segen und Flüche verdeutlicht: begeht die Person eine gute Tat wird sie mit einem Segen belegt, bei einer schlechten Tat ist es ein Fluch.

Auch im nächsten Leben (man befindet sich im System tausender Wiedergeburten) übernimmt man den Saldo der letztjährigen Leben. Lediglich die Seele wird wiedergeboren, der Körper ist lediglich vergängliche Hülle der Seele und sterblich. Man wird in eine entsprechende Form geboren, die dem derzeitigen Karma entspricht. Man kann diesen guten oder schlechten Folgen des eigenen Handelns nur entkommen, wenn man sich aus dem Kreis der Wiedergeburten befreit (durch Gebete zu Gott, die Intensität des vergangenen Karmas zu lindern; durch große Bemühungen). Die Geburt als Mensch ist also Ergebnis des Karmas aus den letzten Leben. Menschsein ist Belohnung, ist Resultat. Alles, was man hat, was man ist, ist wegen der eigenen Verdienste. In den Mythen begegnen sich die Personen in anderen Körpern wieder und begleichen z.B. alte Rechnungen.

Auf einer soziologischen Ebene kann diese Vorstellung in traditionellen Gegenden hingegen folgende Auswirkung haben: man befindet sich in einer schlechten, womöglich aussichtslosen Situation. Wenn nun die Religion sagt, dein Leben sei komplett selbstverschuldet, an allem sei bloß man selbst Schuld (was zweifellos nicht in allen Fällen der Fall ist), wird man sich weniger gegen die bestehenden Verhältnisse auflehnen. Ich denke diese Vorstellung kann das Selbstbewusstsein hindern und eventuell soziale Mobilität und sozialen Aufstieg.

Mensch

Der Mensch ist auch ein Wohnort des Göttlichen, in jedem ist das Prinzip schon vorhanden. Das Ziel eines jeden Menschen ist es, glücklich zu werden. Im Hinduismus wird man glücklich, wenn man den Kreis der Wiedergeburten durchbricht. Dies gelingt durch das Erkennen der eigenen göttlichen Natur. Es ist keine Verwandlung – es ist ein Realisierungsprozess, eine Erkenntnis, eine richtige Einschätzung, die das Bestehende nun versteht und richtig deutet.

Wenn der Mensch dies begriffen hat fängt er von da an das Göttliche in sich zu pflegen, den göttlichen Weg einzuschlagen (dazu gibt es viele, viele Wege; auch das Yoga gehört dazu). Der Mensch muss im Grunde nur in sich selbst suchen. Alle Wahrheit ist schon in seiner Existenz vereinbart. Das Ziel des Lebens ist also Selbsterkenntnis und dadurch die Erlösung, Befreiung.

Das Kastensystem

Auch das Kastensystem, die Ordnung der Gesellschaft in Kasten, entsprang dem Hinduismus. Im Grunde gibt es vier Kasten: die Brahmanen, die Kshatriyas, die Vaisyas und die Shudras. Dazu kommen die Dalits, die Kastenlosen, die aus dem Raster fallen. Jeder Kaste kam und kommt teilweise auch heute noch eine Aufgabe, ein Tätigkeitsbereich und ein Lebensstil zu. Die Brahmanen sind die oberste Kaste, die Priesterkaste. Heute finden sich viele Brahmanen in intellektuellen und akademischen Berufen wieder, zum Beispiel als Professor oder als Anwalt. Die Kshatriyas sind Krieger, Herrscher und Beschützer. Der Tätigkeitsbereich ist im Militär, bei der Polizei oder in der Politik. Vaisyas beümühten sich vor allem als Bauern und Produzenten in der Land-und Viehwirtschaft. Die Shudras sind die Dienerkaste – Dienen ist ihr Lebenszweck.

Glücklicherweise werden Menschen heute nicht mehr offiziell in diese Rollenbilder gezwängt. Trotzdem gibt es Verwicklungen wegen den Kasten, immer wieder Kastenprobleme. Unsere Hostel-Jungs berichteten uns von einem Fall in Karnataka, bei dem ein Junge totgeprügelt wurde, weil er eine Liebesaffäre mit einem Mädchen einer höheren Kaste hatte …


Was jetzt einen trockenen, sachlichen Eindruck haben mag, ist in Wirklichkeit genau das Gegenteil. Kaum eine andere Religion ist so lebhaft, so intensiv, so farbenfroh wie der Hinduismus. Alleine die Tempel bersten über mit Abbildungen der Götter und Symbolik. Über die Götter gibt es Geschichten, Epen, Gedichte – unfassbar alt und sehr spannend zu lesen! In vielen Kämpfen, Liebesaffären und Festen zeigen die Mythen Hintergründe und Gschichterln einer ganz eigenen Welt.

indische Nationaldichtung Ramayana


Die Informationen stammen zum Großteil aus einem Büchlein des Vivekananda Kendra, Kanyakumari Rural Development Programme, das versucht, die Grundlagen der tamilische Kultur zu erfassen.